© Solothurner Zeitung / NMZ; 2001-05-31; Seite 12b - Kanton SO

«Heiliger Krieg» unter den Reformierten

Für und wider eine Evangelisch-reformierte Kantonalkirche: Samuel Feldges und Peter Thomet

Längst hat man den Eindruck, als sei in der Volksabstimmung der Evangelisch-Reformierten vom 10. Juni in Sachen Kantonalkirche die Sache selber zweitrangig. Zum verbalen Duell trafen sich Samuel Feldges, Verbandspräsident der evangelisch-reformierten Synoden und Peter Thomet, Präsident der Kirchgemeinde Messen.

Mit Samuel Feldges und Peter Thomet sprachen Urs Mathys und Wolfgang Niklaus

Als Aussenstehender hat man das Gefühl, es gehe in der Abstimmung vom 10. Juni nicht um die Bildung einer Solothurner Kantonalkirche, sondern es sei unter den Reformierten ein «heiliger Krieg» entbrannt. Wie empfinden Sie, Peter Thomet, als Gegner des Kirchenprojektes die Situation?

Peter Thomet: Vielleicht ist die ganze Sache ein bisschen heftiger geworden, als man das erwartet hatte. Es gibt ja auf beiden Seiten gute Argumente. Was Emotionen weckt ist die Verweigerung der freien Meinungsbildung und -äusserung. Wie hier demokratische Spielregeln verletzt worden sind - das ruft nach entsprechenden Antworten.

Samuel Feldges, was sagen Sie als aktiver Befürworter der Kantonalkirche zu diesen Vorwürfen?

Samuel Feldges: Aus meiner Sicht ist alles sehr demokratisch zugegangen. Wir wollen nichts von oben iniziieren. Wenn etwas geschieht, muss das von unten kommen, also von den Kirchgemeinden aus und von den Synoden im unteren und im oberen Kantonsteil.
Es wurde eine Konsultativabstimmung über eine Kantonalkirche durchgeführt. Worauf die Bezirkssynode den Antrag gestellt hat, dass der Verband der evangelisch-reformierten Synoden im Kanton Solothurn, den ich präsidiere, federführend die Bildung einer Verfassungssynode an die Hand nimmt. Gleichzeitig haben wir auch von der Kirche im unteren Kantonsteil einen solchen Auftrag erhalten. Die Verbandsversammlung beschloss dann mit 20:0 Stimmen : Wir nehmen das in Angriff. Ab dann ist der Verband aktiv geworden. Undemokratisches Verhalten? Diesen Vorwurf weise ich zurück. Die Bezirkssynode hat das Geschäft nach gültigem Reglement abgewickelt, das auch von der Berner Synode abgesegnet worden ist, weil die Bezirkssynode ja keine eigene Rechtspersönlichkeit ist. Wenn einzelne Synodalen verlangen, dass eine ausserordentliche Versammlung durchzuführen sei, dann ist dazu festzustellen, dass dies im Reglement nicht vorgesehen ist.

Was lief falsch, Peter Thomet?

Thomet: 1999 ist im oberen Kantonsteil eine Konsultativabstimmung über die Erarbeitung einer neuen Kirchenverfassung durchgeführt worden. Es betraf dies 45 000 Menschen, eben die Bezirkssynode. Das Resultat ist nie richtig publiziert worden, denn es wäre wichtig, einmal die absoluten Zahlen anzuschauen: Bei den Einzelpersonen waren es 426 Ja und 406 Nein; bei den Gemeinden 5 Ja, 3 Nein. Das hat man nachher so interpretiert, dass ein Mehrheitsbeschluss für die Bildung einer Kantonalkirche gefasst worden sei. Die Verfassung liegt seit Februar auf dem Tisch und hat zur Folge, dass wir die Beziehungen zu und die Dienstleistungen von Bern aufgeben müssen; zu diskutieren wäre auch gewesen, ob unseren Steuerzahlern gegenüber ein Risiko besteht. Es wäre doch nichts anderes als normale Demokratie, dass man darüber reden kann. Das ist verweigert worden. Schriftliche Gesuche der Mehrheit der Bezirkssynode um die Einberufung einer Versammlung innerhalb von drei Wochen wurden nicht beantwortet. Und dann haben sie uns gemäss Reglement für den 19. Juni, also nach der Abstimmung, eingeladen...

Sie sehen sich einem Diktat gegenüber?

Thomet: Ja, es ist schon eine Diktatur. Die wollen zwar an und für sich schon etwas Gutes. Aber das Vorgehen hat mich empört. Die reformierte Kirche pflegt die Gemeindeautonomie - das ist gelebte Kirche in der Gemeinde, in der Begegnung. Die Organisation über der Gemeinde muss gewisse Dienstleistungen erbringen und gegenüber dem Kanton als Ansprechpartner auftreten. Aber führen wollen wir uns selber.

Was könnte die Motivation für «undemokratisches Handeln» sein?

Thomet: Dass man mehr Macht und Einflussmöglichkeiten hat. Das Projekt bedeutet für uns im Bucheggberg neue Grenzen - eben die Kantonsgrenze. Wir wollen nicht eine zentralistische, einheitliche Solothurner Kirche. Unsere Stärke liegt in der Vielfalt.

Bedeutet die Kantonalkirche eine zentralistische, starr organisierte «Kirche von oben»?

Feldges: Im Kanton Solothurn gilt das Gemeindegesetz. Es sagt, dass sich die Kirchgemeinden zu Synoden zusammenschliessen können. Wir können also gar keine Landeskirche bilden, wie das Bern oder Zürich haben. Wir können nur einen etwas «besseren Zweckverband» gründen. Das Entscheidende passiert so oder so in der Gemeinde. Das ist auch in der neuen Verfassung verankert. Das «Zentralistische» ist also ganz minim. Wir gehören heute ja im Grunde nicht zur Berner Kantonalkirche, sind ihr nur angegliedert.

Thomet: Das ist juristische Wortklauberei. Immerhin können wir auch Synodale und Synodalräte stellen und haben die Möglichkeit, aktiv das kirchliche Leben und die Gesetzgebung mitzugestalten. Mehr wollen wir gar nicht. Wir sind froh, dass wir unter zwei «Dächern» sind. Das gibt uns eine besondere Autonomie. Es macht Sinn, wenn die Solothurner Bezirkssynode eng zusammenarbeitet mit dem Synodalverband Bern-Jura, dort gehören wir zu 740 000 Leuten. Die haben eine Infrastruktur, die man nutzen kann.
Gleichzeitig bildet die Bezirkssynode Solothurn (45 000 Personen) mit dem unteren Kantonsteil (35 000 Personen) zusammen den Verband der evangelisch-reformierten Synoden des Kantons Solothurn. Auf dieser Stufe regeln wir die Finanzen, verteilen die Steuern der juristischen Personen, die fast eine Million Franken betragen. Das wird eingesetzt für die Subventionen und die Finanzierung der Aufgaben auf kantonaler Ebene. Das ist zweckmässig.

Was spricht überhaupt für eine Kantonalkirche?

Feldges: Wir brauchen einfache Strukturen, kantonale Strukturen, damit wir interkantonal Aufgaben lösen können. So können wir viele Kräfte einsparen: Wir rechnen mit 80 freiwilligen Funktionen. Ein Beispiel für die Schwerfälligkeit der heutigen Situation: In der solothurnischen interkonfessionellen Konferenz haben wir eine gemeinsame Empfehlung für Kirchenmusiker ausgearbeitet. Die römisch-katholische Kirche, die christ-katholische Kirche und wir als Kantonalkirche hätten dieses ökumenische Papier problemlos genehmigen können. So aber musste unser Verband die Sache zuerst dem Synodalrat der Kirche im Kanton und dem Berner Synodalrat unterbreiten. Und der hat in unsere ökumenische Verordnung den Vorbehalt eingefügt, wonach für die Bezirkssynode in innerkirchlichen Angelegenheiten Bern zuständig sei. Zugegeben, wichtig ist die Grundversorgung, dass Beerdigung, Spitalseelsorge, Hochzeit, Taufe funktionieren...

...das funktioniert doch auch.

Feldges: Richtig - aber unter unmöglichen Bedingungen. Wobei gerade im Unterrichtswesen der untere Kantonsteil sich ohne Probleme dem Aargau oder Baselland anschliessen kann.

Sie, Herr Thomet, hätten da nichts dagegen?

Thomet: Nein. Wir sind froh, wenn von dort Impulse kommen. Was sinnvoll ist, machen wir auch zusammen. Das Bestehende wollen wir behalten. Und wir können auch einen gemeinsamen Lehrplan haben, wenn dies sinnvoll ist. Freiwilligkeit ist ja viel fruchtbarer.

Herr Feldges, wird alles von oben diktiert?

Feldges: Das haben wir nie gemacht. Allenfalls gab es in der Organisation der Bezirkssynode ein Schwäche. Oder Reglemente, die man ändern müsste.

Dass das Vorgehen nicht immer geschickt war, räumen Sie also ein...

Feldges: ...wir haben rechtlich sauber gearbeitet. Die Gegner haben keine stichhaltigen Argumente, also probiert mans halt so. Oder man macht eine Beschwerde beim Kanton, die man tags darauf zurückziehen muss. Hauptsache, man produziert Schlagzeilen...

In der Debatte stehen die Finanzen im Vordergrund. Eine Studie besagt, dass der Mindestaufwand für eine Kantonalkirche vergleichbarer Grösse 3,7 Millionen beträgt - der Solothurner Kantonalkirche sollen nur 1,6 Millionen zur Verfügung stehen. Ist die neue Kantonalkirche gar nicht finanzierbar?

Feldges: Es ist ganz klar, dass wir nicht mit Berner Ansätzen - ein Synodalrat verdient dort zwischen 100 000 und 120 000 Franken - rechnen können. Wir arbeiten mit kleinen Entschädigungen von 8000 Franken und mit relativ vielen Nebenamtlichen, die kleine Entschädigungen erhalten.

Ist die Kantonalkirche nun finanzierbar oder nicht?

Feldges: Sie ist absolut finanzierbar. Zu besagter Studie: Dort vergleicht man Äpfel mit Birnen. In Bern etwa wird die Spitalseelsorge vom Kanton bezahlt. Wir zahlen es aus der Region. Oder Psychiatrieseelsorge: In Bern wird sie vom Kanton bezahlt, bei uns vom Verband.

Wir haben drei Experten eingesetzt. Dieses Gremium hat uns bestätigt, dass eine Kantonalkirche mit diesen Mitteln zu finanzieren ist. Es ist klar, dass spezielle, neue Aufgaben neu finanziert werden müssen. Wir wollen die Verwaltungskosten tief halten und billiger arbeiten, auch auf freiwilliger Basis. Dienstleistungen wollen wir nicht alle selber kantonal aufbauen. Das muss überkantonal passieren.

Diese Rechnung geht für Sie nicht auf, Herr Thomet?

Thomet: Es ist nicht richtig, dass es uns Gegnern nur ums Geld geht. Es sind drei wesentliche Argumente: Einerseits die Treue zu den gewachsenen und gelebten Beziehungen. Der Bucheggberg war immer eine reformierte Region. Diese 450 Jahre haben uns geprägt. Die Sprache, das Denken. Das ist die kulturelle Identität. Ich gehe davon aus, dass Messen und Oberwil Nein sagen werden. Dann gibt es neue Grenzen im Bucheggberg. Das heisst nicht, das wir unsolidarisch sind mit dem unteren Kantonsteil oder zu den Schwarzbuben. Wir wollen mit ihnen weiter zusammenarbeiten. Dafür müssen wir aber nicht eine neue Beziehung eingehen: Warum scheiden, wenn man glücklich verheiratet ist?
Das zweite Argument ist die Wahrung der Gemeindeautonomie. Wir haben jetzt viel Handlungsspielraum und einen hohen Selbstbestimmungsgrad. Dazu kommt der finanzielle Aspekt. Fazit: Die Kantonalkirche bringt einen starken Leistungsabbau - oder wird früher oder später wesentlich teurer.

Man marschiert also mit offenen Augen in ein finanzielles Fiasko?

Thomet: So möchte ich es nicht sagen. Ich will auch nicht das Gespenst einer Steuererhöhung an die Wand malen. Man wird einfach mit stark abgebauter Leistung beginnen und nach und nach das Fehlende wieder aufbauen. Und am Schluss ist es wesentlich teurer.

Feldges: Die drei Experten hatten einen ersten Finanzplan geprüft und festgestellt, dass alle heute erbrachten Leistungen mit dem Finanzplan erbracht werden. Es ist Geld vorhanden im Kanton. Aber es kommt primär aus dem unteren Kantonsteil. Wenn diese Regionen uns innerkirchlich verlassen, steht es nicht mehr zur Verfügung.

Thomet: Die gehen ja nicht weg vom Solothurnischen.

Feldges: Aber sie müssten unsere Psychiatrieseelsorge oder die Gefangenenseelsorge nicht weiter finanzieren, die im oberen Kantonsteil liegen. Diese Region kann mit Bern auch im Unterrichtswesen nicht kooperieren, weil das System verschieden ist.

Erhöht man die Kirchensteuern, wenn die Mittel nicht reichen?

Feldges: Wir haben ja zu viel Geld für das Projekt Kantonalkirche.

Thomet: Zu viel Geld?

Feldges: Wir haben im aktuellen Finanzplan 950 000 Franken. Einen Teil könnten wir in einer Kantonalkirche den Gemeinden zur Verfügung stellen. Oder wir kaufen Leistungen ein, die wir nicht selber anbieten wollen. Das Hauptproblem ist, dass wir heute drei Organisationen im Kanton haben. Wir wollen sie zu einer Organisation verschmelzen, damit man die freiwerdenden Kräfte - hauptsächlich freiwillige - in den Gemeinden einsetzen kann. Dort, wo es wirklich Sinn macht, statt in schwerfälligen, zum Teil parallel angelegten Strukturen.
Wir wollen interkantonal zusammenarbeiten und nicht im Kantönligeist verharren. Aber die Bundesverfassung sagt, dass die Kirche eine kantonale Angelegenheit sei. Und wenn wir über den Kanton hinaus kooperieren wollen, dann müssen wir einen kantonalen Gesprächspartner anbieten.

Herr Thomet, ist es Ihnen egal, was mit dem unteren Kantonsteil passiert?

Thomet: Nein. Mit ihnen müsste man jetzt reden über die Zukunft. Eine denkbare Variante wäre, dass sie einen weiteren Bezirk bilden und sich auch den Dienstleistungen der Berner anschliessen. Aber wenn sie das wollen können sie auch mit Baselland oder mit dem Aargau kooperieren. Und nachher können drei Bezirkssynoden - in einem 3-Synoden-Modell - zur Koordination auf kantonaler Ebene einen Verband bilden. Das wäre das Kirchendach, so wie wir das sehen würden. Das hat nichts zu tun mit «satter Selbstzufriedenheit», die man uns vorwirft.

Dass einzelne Kirchgemeinden ablehnen, ist realistisch. Dann kommts zur «Kirchenspaltung».

Thomet: Das ist die grosse Gefahr. Dass zum Beispiel Solothurn Nein sagt, Grenchen Ja. Und nachher wird es ganz kompliziert - auch wegen der knappen Reserve im Budget der Kantonalkirche. Sie haben in ihrem 1,9-Mio.-Budget nämlich nur gerade 1 Prozent Reserve: 25 000 Franken. Wenn da einzelne Gemeinden Nein sagen, fällt das Budget sowieso über den Haufen.

Feldges: Nein. Man muss sehen, woher das Geld kommt und wohin es fliesst. Geld kommt einmal von den Kirchgemeinden, andererseits vom Finanzausgleich. Und zwei Fünftel des Finanzausgleichs gehen an die kantonalen Organisationen. Das heisst, es ginge an die Kantonalkirche. Und jene Gemeinden, die nicht dabei sind, bekommen nichts davon. So steht es im Steuergesetz. Wenn also zum Beispiel Solothurn nicht mitmacht, dann müssten wir dort keine Beiträge an die Psychiatrie zahlen. Wir müssten nichts an den Unterricht zahlen, wir müssten keine Gefangenenseelsorge zahlen - weil ja die Gemeinde zuständig ist. Die Gemeinden können auch keine Rechnungen stellen. Und das Geld von ihnen für den Finanzausgleich bekämen wir gleichwohl. Es wäre politisch ganz schlecht, wenn einzelne Gemeinden nicht beitreten. Aber finanziell gesehen wäre jede abseits stehende Gemeinde salopp gesagt ein «Gewinn».

Thomet: Eine eigenartige Haltung. Die so auch nicht stimmt, sonst fragen Sie einmal die Finanzausgleich-Fachleute.

Feldges: So stehts im Steuergesetz. Aber wir glauben nicht, dass die Situation lange so bleiben würde: Wir rechnen nach dem Domino-Prinzip damit, dass zuerst abseits stehende Gemeinden dann schon noch den Weg finden.

Thomet: Angenommen, es gibt solche Horror-Szenarien. Dann gibt es einen Schrecken ohne Ende. Und einmal wollen wir in dieser Kirche doch wieder Ruhe haben. Kommt noch dazu, dass die Erhebung von Kirchensteuern bei juristischen Personen im Kanton sowieso auf wackeligen Füssen steht. Wir wollen Anspruch auf den Finanzausgleich in gleicher Höhe wie jetzt.

Was löst der 10. Juni aus?

Feldges: Es gibt Veränderungen. So oder so. Entweder gibt es die Solidarität «Kirche im Kanton mit der Bezirkssynode» oder eine Spaltung des Kantons. Es geht darum, ein Miteinander zu suchen - im Kanton und nachher über die Kantonsgrenzen hinaus.

Thomet: Wichtig ist, dass man nach dem 10. Juni rasch den konstruktiven Dialog findet und nicht zur «Abrechnung» schreitet. Das habe ich mir vorgenommen. Wir hoffen, dass es gelingt.

Zur Person

Samuel Feldges, Biberist, ist Lehrer in Solothurn. Nebenamtlich wirkt er als Präsident des Verbandes der evangelisch-reformierten Synoden im Kanton Solothurn. Er engagiert sich für die Bildung einer eigenständigen reformierten Solothurner Kantonalkirche.

Peter Thomet, Messen, Dr. Ing. agr. ETH. Er ist als nebenamtlicher Präsident der Kirchgemeinde Messen im Bucheggberg tätig, die heute sowohl bernische als auch solothurnische Gemeinden umfasst. Thomet ist Gegner der Vorlage für eine Kantonalkirche.

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